Herrmann Heinrich Grafe, Gründer der ersten FeG in Deutschland

Die FeG Wittlich ist eine von über 500 Gemeinden im Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland. Über 42.000 Mitglieder in den Gemeinden zwischen Aachen und Görlitz, Kiel und Garmisch-Partenkirchen sind lebendige Visitenkarten eines wachsenden Gemeindebundes.
Wo aber kommen Freie evangelische Gemeinden her? Welcher Tradition entstammen sie?
Alles begann mit einem Mann, der 1818 in kleinen Verhältnissen in der Nähe von Osnabrück geboren wurde: Herrmann Heinrich Grafe. Der junge Unternehmer hatte in Wuppertal eine Familie gegründet und zog zwecks Fortbildung immer wieder auf weite Reisen. Dabei war es für ihn als überzeugtem Christen eine Selbstverständlichkeit, auch unterwegs regelmäßig den Gottesdienst zu besuchen. So lernte er in Lyon in Frankreich eine unabhängige evangelische Gemeinde kennen, die ihre Wurzeln in der Westschweizer Erweckung um Genf herum hatte. Dort waren einige Jahre zuvor eine große Zahl Menschen zum Glauben an Jesus Christus gekommen und hatten neue, von den etablierten Kirchen unabhängige Gemeinden gegründet. Zum Teil geschah dies aus Überzeugung, weil die damalige Kirche wenig mit dem gemeinsam zu haben schien, was das Neue Testament beschrieb, zum Teil notgedrungen, weil die etablierten Kirchen argwöhnisch auf die neuen Frommen blickten und nicht wussten, wie sie diese in die bestehenden Gemeinden integrieren sollte. So entstanden von der etablierten Kirche unabhängige Gemeinden, auch im weiten Umkreis von Genf, bis hin nach Lyon, wo Hermann Heinrich Grafe die dortige Gemeinde kennenlernte.
Beeindruckt von der intensiven Verbindung von gelebter Frömmigkeit und herzlicher Gemeinschaft, war Grafe nach Wuppertal zurückgekehrt, wo er sich mit einigen ähnlich gesinnten Männern, vornehmlich jungen Unternehmern, vernetzte. Als engagierte Mitglieder ihrer Kirchengemeinden gründeten sie den evangelischer Brüderverein und verbreiteten gemeinsam die frohe Botschaft von Jesus Christus in ihrem Umfeld. Viele Menschen kamen zu einem lebendigen Glauben an Jesus und es bildeten sich im Bergischen Land und Ruhrgebiet kleinen Gruppen, die sich zum gemeinsamen Bibellesen, Singen und Beten trafen.
Es waren politisch, gesellschaftlich und auch wirtschaftlich unruhige Zeiten rund um die „deutsche Revolution“ von 1848, die neue Freiheiten brachte und damit den wirtschaftlichen Aufschwung dieser Jahre und das Auskommen vieler junger Unternehmer, wie Grafe, ermöglichten. Zugleich ermöglichten die Veränderungen die freie politische und religiöse Betätigung. Das deutsche Vereinswesen nahm in diesen Jahren seinen Anfang und führte zur Entwicklung neuer sozialer Formen.
Aber auch die Bedenkenträger waren in der Situation nicht weit. Viele Vertreter alter Institutionen, darunter auch der Kirche, taten sich schwer mit den neuen Formen und Veränderungen. So kam es, dass die Geschichte von Genf sich wiederholte: die Versammlungen der Frommen fanden in der Kirche keine Unterstützung, sondern Ablehnung und Widerstand.
Auch Grafe, der sich mit viel Idealismus in seiner Kirchengemeinde einsetzte, zog sich angesichts andauernder Ablehnung seiner Vorschläge und Anliegen mehr und mehr aus der ev.-reformierten Kirche in Wuppertal zurück. Seine Vorschläge und Mahnungen zur Erneuerung des kirchlichen Lebens – insbesondere ging es ihm um die Formen der Abendmahlsfeier und die Formen des Gemeindeaufbaus – blieben unerhört. Sein an der Bibel gewachsenes Verständnis von Gemeinde war innerhalb der Kirche offensichtlich nicht umsetzbar. Gegen die Kirche wollte er aber auch nicht arbeiten, sah er sich doch als treuer Christ der Kirche verbunden.
So kam es, dass Grafe in Gemeinschaft mit einigen anderen Männern, als „ein Akt des Gewissens“ die Kirche verließ – ein damals unermeßlich viel größerer Schritt als heute. Da Grafe allerdings davon überzeugt war, dass es Christsein nicht ohne Gemeindezugehörigkeit geben könne, suchte er eine neue geistliche Heimat. Der Versuch, eine neue kirchliche Heimat bei den ebenfalls erst frisch in Deutschland entstandenen Baptisten zu finden, scheiterte leider. Er war sich zwar mit den Baptisten einig über die Frage, wie Christen als Gemeinde zusammen leben können und sollten, jedoch nicht in Bezug auf die Frage, ob die Glaubenstaufe als Erwachsener zwingende Voraussetzung zur Mitgliedschaft sein könne und müsse.
Während baptistische Gemeinden dies i.d.R. bis heute bejahen, verneinte Grafe eine solche Notwendigkeit. Er sah die Taufe als unwiederholbar an und verstand seine evangelische Taufe als Säugling als seine rechtmäßige Taufe. So sehr er auch die Säuglingstaufe als dem Zeitpunkt nach „unordentliche Taufpraxis“ verstand, war eine erneute Taufe bei den Baptisten für ihn undenkbar, und die Wege trennten sich.
Dies führte Grafe dazu, dass er wider Willen zum Kirchengründer wurde. Im November 1854 gründete er in Wuppertal zusammen mit 8 weiteren jungen Männern aus dem Brüderverein die erste Freie evangelische Gemeinde in Deutschland. Grafe blieb mit seinen Überzeugungen nicht allein und die Gemeinde wuchs schnell. Zusammen mit weiteren Gemeinden, die in der Folge aus der Arbeit des evangelischen Brüdervereins entstanden waren, gründete man 1874 mit 22 Gemeinden den Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland. Aus anfänglich 1275 Mitgliedern in 22 Gemeinden im Bergischen Land, wurden innerhalb der letzten eineinhalb Jahrhunderte 42.000 Mitglieder in über 500 Gemeinden in ganz Deutschland. Bis heute verbindet Freie evangelische Gemeinden das gemeinsame Erbe der Reformation mit allen evangelischen Kirchen und freikirchlichen Gemeindebünden.